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Ein Fliegenpilz in Polarrot. Der schimmernde Chitinpanzer eines Rosenkäfers. Im Waldkino läuft ein surrealistischer Film.

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Steinmaur
25.5.2024

Einladung zum Waldbaden

Wie herrlich erfrischt und ausgeglichen wir sind, wenn wir Zeit im Wald verbringen. Der Duft der Nadelbäume, Naturharze und frisch gesägtes Holz erfreut unseren Geruchssinn. Wir sehen wunderbare Formen und Farben wie die einer jungen Distel: Ein silbergrüner Stern, der aus dem Erdreich wächst. Die walzenförmigen Kotbeeren des Rehs - ebenmässig geformt wie glattgeschliffene Steinchen. Ein Fliegenpilz in Polarrot. Der schimmernde Chitinpanzer eines Rosenkäfers. Im Waldkino läuft ein surrealistischer Film: Seine Sequenzen dringen in unser Unterbewusstsein vor: Ein mächtiger Vogel streift ab, ist mehr Schatten als Tier. Im Ameisenhaufen wimmelt es. Die Erde dampft. Unvermittelt fallen Sonnenstrahlen auf die Lichtung. Dazu der sphärische Soundtrack: Hummel brummt, Blätter rascheln. Manchmal ist es fast zu still. Plötzlich nervt eine Motorsäge, das Surren einer Stromleitung und das Rauschen der Autobahn in der Ferne. Es kommt darauf an, wie der Wind steht. Das Ratschen des Eichelhähers: „Achtung! Störenfried!“ Wir sind Beobachter und Protagonistinnen: Ist es ein Abenteuerfilm, klettern wir auf einen Baum oder springen einen Abhang hinunter. Sind wir Romantiker, halten wir inne und betrachten die Welt wie der Maler Caspar David Friedrich.

Das Revival eines uralten Erfahrungswissens

Zur Wahrnehmung mit allen Sinnen leitet das Waldbaden an. „Shinrin Yoko“, wie es auf Japanisch heisst, wurde in den 80er Jahren von Tomohide Akiyama, dem Leiter der japanischen Forstverwaltung, entwickelt. Es ist seit einigen Jahren in aller Munde und fügt sich bestens in die Achtsamkeitstrends unserer Zeit ein. Es ist nichts Anderes als die methodische Anwendung eines uralten Erfahrungswissens, aber auf naturwissenschaftlicher Basis: Neurowissenschaft, Molekularbiologie und Immunologie erforschen die heilende Wirkung, die der Wald für den Menschen bereithält. Das Waldbaden stärkt das Immunsystem, weil wir alle Sinne benutzen und bioaktive Substanzen (Terpene), mit denen Bäume und Pflanzen miteinander kommunizieren, auch auf Säugetiere wirken. Gut erforscht sind diese sekundären Pflanzenstoffe nicht, aber nachgewiesen ist, dass das entschleunigte, bewusste Dasein im Wald den Hormonhaushalt reguliert, den Blutdruck senkt, die Herzfrequenz stabilisiert, die Durchblutung fördert und somit die Psyche stärkt. Das Waldbaden kann ein wichtiger Baustein zu den Regulations- und Reparaturarbeiten des stressgeplagten Organismus werden. Als präventive Methode der Gesundheitsvorsorge erfreut es sich deshalb grosser Beliebtheit. Es hat seinen Siegeszug in die westliche Welt angetreten.

Gestresste Erwachsene, gestresste Kinder

Kinder und Jugendliche sind einem enormen Stress ausgesetzt: geschlossene Räume, ein durchgetakteter Alltag, naturferne Umgebung, die exzessive Nutzung digitaler Geräte und nicht gerade selten kontrollierende, perfektionistische und ängstliche Eltern halten den Stresspegel auf einem kontinuierlich hohen Niveau. Das hat Folgen für das Gehirn, die Grob- und Feinmotorik und Kreativität. Wie sollen sich Kinder, deren Eltern selbst nicht wissen, wie man sich herunterregelt und entspannt, Ruhe finden, Kraft tanken – gesund bleiben? Hinzu kommt, dass fast 85 Prozent der Schweizer Bevölkerung in der Stadt lebt. 2015 hat die Deutsche Wildtierstiftung in einer breit angelegten Studie auf die Naturferne von Kindern hingewiesen: Fast 50 Prozent der Vier- bis Zwölfjährigen sei noch nie auf einen Baum geklettert.

Waldbaden erfordert Zeit, mindestens zwei Stunden. Besser wäre ein halber oder sogar ein ganzer Tag. Erst dann tut sich nachweislich etwas im Körper und in der Psyche. Das muss geübt werden. Auch eine Lehrkraft sollte sich fragen, welche Walderfahrungen sie selbst mitbringt, bevor sie eine Einheit im Waldbaden übers Knie bricht. Es geht gerade nicht darum, sich auszupowern und wie Jogger, Mountain-Bike-Fahrerinnen oder von der Leine gelassene Hunde durch den Wald zu hetzen, sondern entspannt, gemächlich und mit wechselndem Fokus und Tätigkeiten die Botschaften dieser Welt aufzunehmen. Empfohlen wird, sich in einem Waldareal mit einem Durchmesser von maximal 2,5 Kilometern aufzuhalten. Das Waldbaden unterscheidet sich auch fundamental von einem Waldspaziergang von A nach B, auch wenn dieser durchaus Elemente des Waldbadens enthalten kann. Google-Maps hat sich erledigt: Wer in der Lage ist, innezuhalten und sich treiben zu lassen, braucht keine Motivation durch digitale Standortbestimmung. Stets wird darauf hingewiesen, dass Menschen auf Waldwegen bleiben sollen, doch gibt es in der Schweiz das freie Betretungsrecht des Waldes. Nur wenige Meter neben den Waldwegen beginnt eine aufregende, zauberhafte Welt. Es ist gar nicht nötig, in Dickichte vorzudringen. Dennoch sollte sich die Lehrkraft ausgiebig mit dem Waldgesetz und den Regeln im Wald vertraut machen und diese vorab im Unterricht zum Thema machen. Auch der zuständige Forstbeamte oder eine Wildhüterin kann in das Projekt einbezogen werden. Sie wissen am besten, welche Orte und Zeiten sensibel sind, kennen geeignete Areale. Denn bei aller Begeisterung für das Waldbaden, gilt es eines nicht zu vergessen: Der Wald ist gut für den Menschen, aber ist der Mensch auch gut für den Wald?

In einem ersten Schritt können die Erfahrungen der Schülerinnen und Schüler bewusst gemacht werden: Kennen sie Waldspaziergänge? Haben sie ein Waldabenteuer erlebt? Wovor haben sie Angst? Wie bereitet man sich vor auf eine Zeit im Wald? Was bedeutet die Wetterlage, die Jahreszeit? Welche Vorstellungen verbinden sie mit dem Wald? Kennen sie Lieder, Gedichte, Sprichwörter? Vielleicht gibt es auch Pfadfinder in der Klasse.

Verhaltenstipps für einen respektvollen Waldbesuch

https://www.afw-ctf.ch/de/wald-knigge/verhaltens-tipps

Der Wald-Knigge als Film

https://www.youtube.com/watch?v=CGnbgePO1i4&t=6s

Wesentliche Anregungen in diesem Artikel sind folgendem Buch entnommen: Regina Bestle-Körfer: Waldbaden mit Kindern. Achtsamkeit und Entspannung in der Natur. Herder-Verlag. Freiburg im Breisgau 2020. Das Buch ist derzeit nur als eBook erhältlich. Die Autorin ist Sozialpädagogin und Erwachsenenbildnerin. Das Buch ist zugeschnitten auf pädagogische Einheiten mit Kindern im Kindergarten und in der Primarschule, bietet jedoch eine grosse Fülle an Elementen des Waldbadens, die sich auch für den Sekundarschulbereich eignet.