Ringeltaube brütet im Hinterhof. Kirschbaum blüht. Bei Altekrüger laufen die Drähte heiß: Es ist Saison für Rogen und Milch vom grünen Hering.
Für die Publikationen der Fischpresse GbR, einem Verlag auf der Nordseeinsel Norderney, schrieb ich u. a. mehrere Weihnachtsreportagen.
Ringeltaube brütet im Hinterhof. Kirschbaum blüht. Nachbar erklärt seiner chinesischen Putzfrau, was Advent ist. Am späten Nachmittag, bei Sonnenschein und fünfzehn Grad, brechen wir zu den Weihnachtsmärkten am Alexanderplatz auf, um bei estnischem Beerenglühwein und Hirschbratwurst das Heiligabendmenü zu besprechen. Auf zu Brezel XXL, Berliner Germknödel und Zuckerwatte. An der Straßenbahn-Haltestelle am Antonplatz beißt eine Frau voller Heißhunger in eine Spreewaldgurke to go. Nicht, dass das ein alltäglicher Anblick im Ostteil der Stadt wäre. Es ist ein Relikt aus DDR-Zeiten. Kurzer Informationsaustausch, wo es die leckere Gurke gäbe. „Der Gemüseladen der Vietnamesen in der Berliner Allee.“ Alles klar.
Nur zwanzig Minuten später befinden wir uns schon im „Wintertraum ums Alexa“, einer Fressmeile mit Jahrmarkt. Frische Champignons und gebackener Blumenkohl neben Dampfnudeln neben Schwenkbraten neben Langos, einem in Schmalz gebackenen Fladen neben den üblichen Lebkuchenherzen, Liebesäpfeln und Süßzeugs. Die Stimmung ist lahm. Wir gehen weiter zum Roten Rathaus. Dort gibt es eine „Marktgasse mit Altberliner Kulisse“. Crêpes, Nougatspezialitäten und Bratapfel. Immer wieder fallen uns Flüchtlingsfamilien auf, die von Ehrenamtlichen über den Markt begleitet werden. Die erklären den artig lächelnden Menschen, was sie hier sehen wie zum Beispiel Standbilder zum Märchen Schneewittchen.
Wir schauen uns an. Das Restaurant „Nordsee“ an der Spandauer Straße lacht uns an. Wir betreten den Laden. Schauen in die Auslage. Wissen nicht so recht. Schauen in die Gesichter der Angestellten. Die verrichten ihren Service emotionslos. „Sehen die so aus, als ob sie traurig wären oder haben wir den Vorweihnachtsblues?“, fragt mich meine Freundin. Solche Genüsse wollen wir nicht! Wir setzen uns an einen Tisch und bleiben fast am Möbel kleben. Wir ergreifen die Flucht. Jetzt hilft nur noch Jagertee, hochprozentig und gezuckert. Uns tropft der Zahn. Unser leerer Blick macht Halt am bunt beleuchteten Neptunbrunnen. Er gibt die Kulisse für eine Eisbahn ab. Um den Meeresgott schlittern kleine Kinder, die sich an Pinguinfiguren festkrallen. Krokodil, Schlange, Robbe und die allegorischen Figuren von Elbe, Oder, Weichsel und Rhein. Rhein hat zwei Fische im Netz. Es reicht.
Wir fahren zurück nach Weissensee, zum Fischladen Altekrüger an der Langhansstraße 13, um mit einem Fischbrötchen unser Sinnenchaos zu neutralisieren. Der Laden, der auch die letzte Fischräucherei Ostberlins beherbergt, liegt nicht weit vom Antonplatz, wo die Frau in die Spreewaldgurke to go gebissen hat. Jens Altekrüger, der das Familienunternehmen in zweiter Generation führt, ist selbst im Laden. Während wir herzhaft in ein Brötchen in Muschelform mit geräuchertem Lachsspieß beißen, mit und ohne hausgemachter Remoulade, wollen wir wissen, warum es quadratkilometerweit um den Alexanderplatz nicht ein einziges Fischbrötchen gibt. Warum Altekrüger dort keinen Stand hat. Wir erfahren als erstes, dass man zu Ostzeiten noch gar keine Fischbrötchen kannte. Viel wichtiger aber ist, was Jens Altekrüger dann sagt: „Der Rummel ist nichts für uns. Das Geschäft ist uns zuwider. Die Leute, die dort arbeiten, sind arm dran. Ein Stand kostet für drei Wochen 5000 Euro plus Energie und Löhne. So viele Fischbrötchen müssen Sie erstmal verkaufen, und je kälter es ist, umso schwieriger ist es mit den Fischbrötchen, denn die Hände sind kalt, das Brötchen ist kalt. Kann ja keiner ahnen, dass wir Frühlingstemperaturen haben.“
Ringeltaube brütet im Hinterhof. Kirschbaum blüht. Bei Altekrüger laufen die Drähte heiß: Es ist Saison für Rogen und Milch vom grünen Hering.