Ein 30km-Marsch, Zen, die gottgeweihte Jungfrau und nächtliche Betübungen
Veröffentlicht in gekürzter Fassung in Reader's Digest (dt./franz./ital.)
Hinter diesen Hügeln ist gut verstecken. Auf Schritt und Tritt, an jeder Weggabel der steil abfallenden Rundungen fordern Kruzifix, Kapelle oder Bildstöcklein zur Andacht auf. Aber beten, das kann ich nicht. In Gemeinschaft leben – davon verstehe ich wenig. Deshalb bin ich hier, um das zu lernen. Ich komme aus Zürich und in guter Absicht. Einen Tag lang und dreißig Kilometer bin ich marschiert. Ich habe die Strecke vom Uetliberg bis in die Ausläufer der Höhrenenkette, dem Gebirgszug, der dem Zürichsee sein spektakuläres Panorama in Richtung Westen gibt, ausgekundschaftet. Bei Sonnenaufgang ging ich los. Ich bin eingeladen, den Alltag mit drei katholischen Gemeinschaften zu teilen, die in der Gegend in und um Menzingen beheimatet sind: mit den Schwestern vom Heiligen Kreuz, den Kapuzinerinnen vom Gubel und den Jesuiten in Bad Schönbrunn.
Bei den Jesuiten
Ich bin schon das zweite Mal zu Gast bei den Jesuiten, einem katholische Männerorden. Jesuiten tragen keine Kutten. Jesuiten machen Bildungsarbeit mit Laien. Papst Franziskus ist ein Jesuit. Alles, was ich an ihnen wahrnehme, ist außergewöhnlich und so ist auch ihre Welt in Bad Schönbrunn, die sie in fast 90 Jahren geformt haben. 19 Quellen entspringen auf dem Areal des Lassalle-Hauses, das nach Pater Hugo Enomiya Lassalle benannt ist. Er war der erste Zen-Meister christlichen Glaubens, und Zen-Meditation bildet eines der Herzstücke in Bad Schönbrunn. Es ist schön, sich der Klarheit, Schönheit und dem Rhythmus des Hauses anzuvertrauen. Kaum bin ich angekommen in meiner Mönchsklause, lese ich, was ich mir vergangenes Jahr nach zwei Tagen Zen-Meditation notiert hatte: Tag 1: „Ich vermisse ein Morgenritual in meinem Alltag.“ Tag 2: „Auf dem Altar des Jesuiten Niklaus Brantschen stehen Fotos seiner Weggefährtin Pia Gyger, von Pater Lassalle, dem Zen-Meister Yamada Roshi und eine Orchidee. Nicht einmal Jesus! Wer steht auf meinem Altar? Niemand.“ Betroffen lege ich meine Notizen weg: Noch immer habe ich kein Morgenritual. Und mein Altar ist leer.
Beim Abendessen mache ich Bekanntschaft mit den Langzeitgästen des Hauses. Sie leben drei bis sechs Monate in der Gemeinschaft, nehmen an Meditationen und Kursen teil und werden geistlich begleitet. 21 Stunden in der Woche verrichten sie einfache Arbeiten, womit Kost und Logis abgegolten sind. Sie alle sind hier, weil sie etwas umtreibt: der Wunsch nach beruflicher Veränderung, eine Unzufriedenheit, die Sehnsucht nach Klarheit. „Ich habe mich oft nach dem Sinn meines Handelns gefragt“, sagt Adrian-John Hak, ein selbständiger Therapeut, Musiker und Buchautor. „Lust ist auch göttlich, das habe ich hier gelernt. Die Frage, wohin es mich zieht, ist wichtiger als meine strenge, innere Gesellschaft.“
Am Tag meines Aufbruchs, es ist der erste April, nehme ich an der Morgenmeditation der Hausgemeinschaft teil: Zen, Einübung ins Nicht-Denken. Das Klingeln eines Handys durchbricht die Stille. Ein sonderbarer Vorgang und er sorgt für Irritation. Es war das Handy von Langzeitgast Beat, der auf Pikett war. Darf er deswegen nicht an der Meditation teilnehmen? „Was ist denn überhaupt passiert“, will ich beim Mittagessen von Beat wissen. Er strahlt über das ganze Gesicht: „Nichts.“
Bei den Kapuzinerinnen
Seit 165 Jahren leben auf dem Gubel im Kloster "Maria hilf" Kapuzinerinnen ein einfaches, arbeitsreiches und frommes Leben und versehen in Schicht den Betdienst vor dem Allerheiligsten. Schon vor der Klostergründung war der Ort wegen der Schlacht vom Gubel ein Wallfahrtsort. Bis 2010 sind Gebetserhörungen bezeugt. Die Nonnen leben in einem abgeschlossenen Bereich, der Klausur. Sie tragen die braune Tracht und den schwarzen Schleier.
Im Empfangsraum kommt es zum ersten persönlichen Kennenlernen mit der Helfschwester Maria Felicitas. Eine Einladung zum Kaffee nehme ich gerne an. Die Pförtnerin Maria Margareta serviert Gubel-Chräpfli, Zuckerstückchen in der viereckigen Kristallschale, eine Tasse Kaffee. „Heute ist ein besonderer Tag. Nicht nur Sie sind angekommen, sondern auch eine gottgeweihte Jungfrau“, erklärt Maria Felicitas. "Kann ich sie kennenlernen", frage ich. "Aber ja, sicher, sie wohnen mit ihr auf dem Gang."
Nachdenklich beziehe ich mein Zimmer und blicke in den Klostergarten, ein eingeebneter Rasen. Die jüngste Nonne ist 69 Jahre alt, die älteste 97. Es ist ein Wunder, dass sie mich willkommen heißen.
Eine Stunde später betrete ich mit 17 Kapuzinerinnen den Inneren Chor. Auf meinen Oberschenkeln brennt das Stundenbuch, als wäre es unter Strom gesetzt. Was ist eigentlich los? Ich bin auf Empfang und wer auf dem Gubel auf Sendung ist, das werde ich noch herausfinden. Ich habe den Wunsch am Abend einen Betdienst zu übernehmen. Mutter Immaculata Iten ist einverstanden.
Nach dem Abendbrot erzählt mir die Altenpflegerin Elisabeth Maria, durch Jungfrauenweihe zur Ehelosigkeit verpflichtet, in der Waschküche ihre Geschichte. Es ist die Geschichte der Odyssee einer Frau, die ihren Dienst an Gott und den Menschen verrichten möchte und bisher nicht den richtigen Ort für sich gefunden hat. Sie zeigt mir ihren Silberring, auf dem der Name von Jesus eingraviert ist. Im Gegensatz zu einer Nonne tritt eine gottgeweihte Jungfrau nicht in die Klostergemeinschaft ein. Sie kann gehen, wohin sie will. „Ich kannte den Gubel schon von früher. Das Gebet ist das Allerwichtigste. Ich frage mich, was wird, wenn die Nonnen gestorben sind. Das darf hier nicht einfach so untergehen.“ „Könnte man auch eine gottgeweihte Jungfrau werden, wenn man ein erwachsenes Kind hat“, frage ich vorsichtig. Sie lacht. „Aber ja sicher. Du musst nur katholisch werden.“
Später am Abend trete ich meinen Dienst zur „Ewigen Anbetung“ an. Wo setze ich mich hin? Ich versuche es gleich vor dem Altar und bete. Ich muss von diesem Platz weg. Es ist nicht angemessen, hier zu sitzen. Ich finde meinen Platz rechts außen, vorne in der zweiten Reihe, und versuche es wieder. Da fässt mich ein Gefühl an, das mir völlig fremd ist: Vergebung.
Bei den Franziskanerinnen
Institut Menzingen ist das Mutterhaus der Schwestern vom Heiligen Kreuz. Seit drei Stunden bin ich hier und habe bereits eine Vesper, einen Gottesdienst und den Steinigen Weg der Mutter Bernarda, eine Ausstellung zum Leben der Ordensgründerin, nachvollzogen. Jetzt tut es gut, allein mit Schwester Margrit in der kleinen Küche im Ostflügel der imposanten Klosteranlage zu Abend zu essen und über die Erlebnisse der letzten zwei Tage zu reden: die Nachwirkungen eines 30km-Marsches, Zen, die gottgeweihte Jungfrau und nächtliche Betübungen - das alles geht mir nah. Ich bin in einen religiösen Durchlauferhitzer geraten. Schwester Margrit spürt meine spirituelle Sehnsucht und ihr Realitätssinn, ganz Franziskanerin, erdet mich. Wie schön wäre es, sich unter der mächtigen Kuppel des Klosters ein paar Tage auszuruhen, doch das ist in Menzingen nicht zu haben: Frühstück 8.30 Uhr, Gottesdienst 9 Uhr, Gespräch mit Schwester Vreni, Mittagsgebet 11.30 Uhr, Mittagessen 11.45 Uhr, anschließend Friedhofsbegehung. 34 betagte Franziskanerinnen halten strikt ihren Tagesplan ein. So leben sie seit 1844, als die Gründerinnen ihr Werk antraten und, in grosser Armut in einer kleinen gemieteten Wohnung lebend, die Bildung von Mädchen in den Schweizer Bergkantonen aufbauten. 172 Jahre später: Mit über 150 Angestellten sind die Schwestern der größte Arbeitgeber von Menzingen. Über 2000 ausgebildete und studierte Schwestern vom Heiligen Kreuz setzen sich für eine bessere Welt ein. In der Schweiz ist ihr Werk vollendet, in Afrika, Südamerika und Asien setzen sie es fort.
Ich betrete ihren Friedhof. In der toskanischen Bogenhalle mit überkuppelter Halle sind 79 Provinzialoberinnen begraben. Jede von ihnen ist mit einem Signet bedacht, einer Art Empfehlungsschreiben, das Weg und Wesen der Franziskanerin in Führungsrolle dokumentiert. Es ist herrlich, diese Signets zu lesen. Wo habe ich jemals gesehen, dass den Leistungen von Frauen so viel Wertschätzung entgegengebracht wird? In Menzingen ist sie in Stein gemeißelt. Bernarda Heimgartner, die Gründerin, liegt in der Kreuzkapelle begraben. „Erwarte viel, ja alles von Gott“, ist ein von ihr überliefertes Wort. Ja, Mutter Bernarda, das verspreche ich dir.